A. Die Ehrenbreitsteiner Protestanten im Herzogtum Nassau in den Jahren 1811/12
Nach Dr. Richters Mitteilung bestand die evangelische Bevölkerung "im Jahre 1811 aus 35 Seelen und petitionierte damals um Mittel zur Beschaffung eines Betsaales und Anstellung eines Pfarrers oder wenigstens eines Schulmeisters, wurde aber 1812 vom Herzog Friedrich Wilhelm abschlägig beschieden und auf den Besuch des Gottesdienstes in Bendorf und Coblenz verwiesen". Hinter dieser präzisen Sachverhaltsschilderung, die Pfarrer Lohmann in seiner 1924 erschienenen Festschrift zum 25 jährigen Jubiläum seiner Pfaffendorfer Kirchengemeinde verwendet hat, verbergen sich eine Reihe von Einzelheiten zu evangelischen Beamten und Selbständigen, die ihr dienstlicher Auftrag und ihre Geschäftstätigkeit in eine katholisch dominierte Gemeinde geführt hatte, wo sie "in Staats- und Privatgeschäften", wie sie es nannten, ihr Auskommen fanden.
Als "Einwohner zu Thal-Ehrenbreitstein" hatten sie sich in einer Petition vom 8. August 1811 an die regierenden Fürsten des Herzogtums Nassau gewandt und ihnen eröffnet, "daß schon seit einiger Zeit mehrere protestantische Glaubensgenossen sich hier niedergelassen haben und daß seit der Zeit, wo hochdieselben [hochfürstlichen Durchlauchten] geruhten, die hiesigen Dykasterien in ihrem Wirkungskreise zu vergrößern, die Zahl der protestantischen Familienhäupter dahier ohne die auf den benachbarten Dörfern wohnenden einzubegreifen, auf ohngefähr 20 gestiegen ist". Eine fehlende Kirche am Ort und im Umkreis von mehreren Stunden zwinge, zum Gottesdienstbesuch "nach Frankreich über[zu]gehen" und sich an die Koblenzer Reformierten und Lutheraner anzuschließen. Die Rheinpassage aber sei, zumal im Winter bei Eisgang, gefährlich und dem regelmäßigen Kirchenbesuche hinderlich. Zudem mache es in Ehrenbreitstein selbst einen schlechten Eindruck, wenn die an die hiesigen Dikasterien versetzten Protestanten kein "freyes öffentliches Religionsexercitium" genießen könnten. Wie sollten schließlich die nicht-protestantischen Einwohner des Ortes ihren protestantischen Vorgesetzten Vertrauen schenken, wenn sie an ihnen nicht "die mindeste Äußerung einer Gottesverehrung gewahr werden". Einem Vorgesetzten - und hierin gipfelt ihre Argumentation - müsse man Religion zutrauen können.
Herzog Friedrich Wilhelm von Nassau, der zu dieser Jahreszeit ganz in der Nähe auf Schloß Engers geweilt hatte, schickte ihre Petition am 3. September dem evangelischen Konsistorium nach Wiesbaden zur Stellungnahme zu, das wiederum die Superintendenten in Weilburg und Wiesbaden mit der Sache betraute. Beide Superintendenten begutachteten das Gesuch im wesentlichen positiv und befürworteten auf der Basis der Rechtsgleichheit aller kirchlichen Parteien nach der Bundesakte vom 12. Juli 1806 die "Erteilung aller Parrochialrechte für die neue Gemeinde in Ehrenbreitstein". Indes scheiterte das Projekt an der Übernahme der Kosten durch die Staatskasse. Das Wiesbadener Ministerium beschied die Ehrenbreitsteiner Supplikanten daher unterm 13. März 1812, ihrer geringen Personenzahl wegen die evangelischen Gottesdienste, wie bisher auch, in Koblenz oder Bendorf zu besuchen. Ohne Rücksicht auf die höchst unterschiedlichen Zahlenangaben, die aber durchaus den gleichen Personenkreis treffen könnten - die Ehrenbreitsteiner nennen ungefähr 20 Familienoberhäupter, die Superintendenten sprechen mit Einschluß der Dörfer von 53 Personen, unter denen 16 Staatsdiener sich befinden, - bleibt erkennbar, daß mit dem Anfall des rechten Rheinufers an die Fürsten von Nassau durch den Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803 der Protestantismus ins bislang katholisch dominierte, kurtrierisch regierte "Thal" Ehrenbreitstein seinen Einzug schrittweise eingeleitet hatte. Als einst kurtrierischer Residenzort besaß Ehrenbreitstein die räumlichen und geopolitischen Voraussetzungen zur Etablierung einer Provinzialregierung für den nördlichen, aus überwiegend kurtrierischem Erbe angefallenen Landesteil und zur Weiterverwendung des von Kurtrier übernommenen Justizsenats. Im Zuge der Besetzung dieser seit 1803 betriebenen Mittelbehörden - die Petition spricht von "Dikasterien" - sind vorwiegend höhere nassauische Beamte zu den bereits vorhandenen Protestanten ins "Thal" nachgezogen. Mit der Betonung ihres Vorgesetzten-Status heben sie sich von den katholischen Subalternbeamten ab und geben sich zugleich als dominierender Berufsstand der evangelischen Petenten zu erkennen, unter denen auch von ärmeren und einfacheren Leuten sowie von Hauspersonal die Rede ist.
Die ersten Protestanten sind in zeitlich verschobenen Phasen, vielleicht schon mit der französischen Rheinlandbesetzung seit 1794, in ihrer gewichteten Mehrheit aber erst seit nassauischer Zeit, nach Ehrenbreitstein gekommen. Sie sind frühzeitig bereits eine sozial abgestufte, unter Führung der nassauischen Beamten stehende Gemeinschaft gewesen, die in ihren religiösen Belangen völlig auf sich allein gestellt blieb. Ihr Wunsch nach einem Raum für den Gottesdienst - sie hatten "den großen Saal" im Dikasterialgebäude vorgeschlagen - und nach einem Pfarrer, der zugleich Religionslehrer sein und nach beiden Funktionen besoldet werden sollte, läßt das Verlangen nach gemeindlicher Konstituierung und nach institutioneller Repräsentanz in einem katholisch dominierten Umfeld erkennen. Der damit angestrebten Ortsfestigkeit und sakralen Autonomie trugen die Superintendeten in ihrem Gutachten dadurch Rechnung, daß sie einen gar nicht geforderten evangelischen Friedhof als notwendig erkannten und den Investitionspreis zur ortsfesten Installierung der evangelischen Gemeinde in die Höhe schraubten. Die Kirchenleitung auf der mittleren Ebene hatte die Chancen für eine erweiterte Präsenz der nassauisch geführten evangelischen Kirche am Mittelrhein wohl erkannt. Die nassauische Zentralverwaltung aber sah sich durch die Kosten zum Verzicht genötigt und überließ die Ehrenbreitsteiner Protestanten ihrem Schicksal.
Zur Erläuterung der vorgestellten Texte sei abschließend noch eine Bemerkungen erlaubt. Das gegenüber auf dem linken Rheinufer gelegene Koblenz gehörte seit 1801, seit dem Verzicht des Reiches im Frieden von Luneville auf die seit 1794 militärisch besetzten linksrheinischen Lande, zum französischen Staatsgebiet. Der Beitritt Nassaus zum Rheinbund von 1806 unter Führung Frankreichs und seiner konfessionellen Toleranz bot ganz offensichtlich die rechtliche Grundlage, den Ehrenbreitsteiner Protestanten den Kirchenbesuch bei den lutherisch dominierten Reformierten im französischen Koblenz als Alternative zu belassen.
Quelle: 1899 -1999. Festschrift der Evangelischen Kirchengemeinde Koblenz-Pfaffendorf aus Anlass des 100. Jahrestages ihrer Gründung zum 1. Oktober 1899